Mehrsträngiges Erzählen

Sommersemester 2019

Wenn ein Roman oder Spielfilm mit zwei, drei oder auch fünf mehr oder weniger gleichberechtigten Erzählsequenzen anfängt, die zunächst gar nichts miteinander zu tun haben und von denen auch nicht klar ist, wie sie zeitlich korrelieren, ist heute niemand mehr allzu verwirrt oder gar empört. Denn alle rechnen fest damit, dass sich früher oder später alles irgendwie zusammenfügt – wie es dann in der Regel auch geschieht. So wird mittlerweile so gut wie jeder Bestseller, jede Serie, jeder „Tatort“ ganz selbstverständlich mehrsträngig erzählt. Das dafür erforderliche, keineswegs naturgegebene Arsenal an mentalen Schemata ist offenbar so flächendeckend eingeübt, dass man es weder als solches registriert noch eigens darüber reden muss.
Das war nicht immer so. Und auch in der aktuell kanonischen Erzähltheorie im Gefolge von Gérard Genette schlägt sich die Hegemonie medial-moderner Mehrsträngigkeit kaum nieder, ebenso wenig wie deren breiter Vorlauf in der Epik-Tradition. Im Gegenteil: Je strukturalistischer eine narratologische Schule, desto geringer die Chance, in deren Lehrwerken Stichworte wie „Mehrsträngigkeit“, „Erzählstrang“ oder „Multilinearität“ wenigstens im Glossar, geschweige denn eingehend reflektiert zu finden, woran auch vereinzelte theoretische Vorstöße wie Reingart Nischiks „Einsträngigkeit und Mehrsträngigkeit der Handlungsführung in literarischen Texten" (1981) nicht viel ändern konnten. Das führt zu einer wachsenden didaktischen Kluft: auf der einen Seite die reale Praxis mehrsträngiger Produktion und Rezeption und auf der anderen curriculare Standards, die für deren Analyse tendenziell dysfunktionale, weil implizit einsträngig definierte Analysekategorien wie „Erzählzeit/erzählte Zeit“, „Analepse“, „Nullfokalisation“ etc. anbieten.
Gegenstand des Seminars ist es daher, sich die Effekte mehrsträngigen Erzählens an ausgewählten Beispielen – einführend Heinrich von Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“, als stranganalytische Herausforderungen dann Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ und die Serie „The Wire“ – vor Augen zu führen und Möglichkeiten ihrer narratologischen Kartografierung zu erproben. Dabei sollen vor allem die komplexen Zeitverhältnisse, hier primär die Trennung von integraler Story-Zeit versus strangbezogenen Eigenzeiten im Verhältnis zur jeweiligen Erzähl- bzw. Darbietungszeit, sowie Formen der Präsent-Werdung bzw. -Machung von „abwesend parallellaufenden“ bzw. „stillstehenden“ Handlungssträngen („Spannung!“) im Zentrum stehen.