Geschichte und Gegenwart des Anachronismus

Sommersemester 2018

Wenn E.T.A. Hoffmann sein Fräulein von Scuderi in der gleichnamigen Erzählung von 1818 im Handlungsjahr 1680 an einem Roman arbeiten lässt, den ihr reales Vorbild Madeleine de Scudéry damals längst, nämlich schon 1660, veröffentlicht hatte, mag das ein Versehen sein und – zumal vollkommen nebensächlich – kaum jemandem auffallen. Wenn Mark Twain dagegen in einem Roman von 1889 einen damals zeitgenössischen Yankee an den Hof von König Artus ins Jahr 528 zurückversetzt, so ist das eindeutig Absicht und als zeitfiktionales Konstrukt zur Veranschaulichung der Ungleichzeitigkeit von amerikanischer Moderne und britannischem Mittelalter die zentrale Werkidee.
Anachronismen können offenbar in sehr verschiedenen Varianten auftreten: ungewollt oder gewollt, unmerklich bis eklatant, nah bis fern, punktuell bis großflächig, rück- oder vorgriffig, noch dazu in allen Gattungen, Medien und in der Realität. Im Kern jedoch geht es stets um dasselbe: ein Zugleich-Sein von Ungleichzeitigem in oder relativ zu einem bestimmten Betrachtungsrahmen – sei es im weiten Sinn irgendeiner Zeitunstimmigkeit („Um 14 Uhr kann der Verdächtige noch gar nicht da gewesen sein, weil...“) oder im engeren und meist gemeinten Sinn einer anschaulichen Epochen-Inkongruenz (wie bei einem Neandertaler mit Smartphone). Entscheidend ist jedoch die Rahmenkonstellation, die den Anachronismus jeweils charakterisiert:
a) als zeitliche Inkongruenz innerhalb des medial konstituierten Rahmens einer dargestellten, dann stets teils irrealen Welt bzw. Handlung (wie bei Mark Twains Yankee),
b) als zeitliche Inkongruenz realgeschichtlich situierter Elemente einer Geschehnis-Repräsentation gegenüber der überlieferten – und so je nach Kenntnis ggf. mit in den Medienrahmen projizierten – Realgeschichte (wie bei E.T.A. Hoffmanns ‚Vorverlegung‘ von Madame Scudérys Roman),
c) als Medienrahmen-/Medienrahmeninhalts-Inkongruenz wie etwa angesichts einer Assembler-Code-Repräsentation des Alten Testaments oder „E = mc2“ auf einer antiken Papyrusrolle, oder schließlich
d) im Zuge eines Sprechakts, der etwas oder jemanden relativ zu einem jeweils mitgesetzten Gegenwartsrahmen für inkongruent befindet, ob allgemein und entsprechend unspezifisch („Sie sind zu früh da, die Sitzung beginnt erst um drei.“) oder in Hinblick auf eine bestimmte Epochengegenwart – und hier entweder abwertend („Ihr seid ja wohl von gestern!“, „Das ist völlig aus der Zeit gefallen!“), aufwertend („Das ist die Zukunft!“ „Ich bin der große Unzeitgemäße!“ „Hier lebt sie noch, die gute alte Zeit!) oder deskriptiv („Version 5.1. ist nicht mehr kompatibel.“).
In allen Fällen müssen die kollidierenden Elemente dafür jedoch zeitlich so klar konturiert sein, dass ihre Inkongruenz Gestalt gewinnen kann. Ohne Linearität keine Chronologie, daher auch keine Brüche in ihr. Und ohne Chronik weder Epochen noch Epochendifferenzen.
Im Seminar sollen an prägnanten Beispielen die wichtigsten Typen, Wirkungen und – wo gegeben – Wirkungsabsichten von Anachronismen erörtert werden. Stets ist dabei nach den jeweils zugrundeliegenden Geschichts- bzw. Zeitkonzepten zu fragen; ferner nach dem Grund für die Asymmetrie von Vergangenheits- und Zukunftsanachronismen; nach den Korrespondenzen zwischen ästhetisch generierter bzw. erlebter Ungleichzeitigkeit einerseits und realhistorisch-lebensweltlicher (wie Ernst Bloch sie 1936 in „Erbschaft dieser Zeit“ am Beispiel des Faschismus analysiert hat) andererseits; oder schließlich nach der Abgrenzung des Anachronismus zu omni-temporalen Entwürfen, wo – wie in Dantes „Göttlicher Komödie“ – Gestalten aus verschiedenen Epochen und Realitätssphären zugleich erscheinen können, ohne dass jemand ‚zu früh’ oder ‚zu spät’ wäre.
Die endgültige Textauswahl wird in der ersten Sitzung festgelegt.