Günther Anders

Wintersemester 2017/18

Als Günther Anders 1956 diagnostizierte, „daß wir nun als Nachzügler dessen, was wir selbst projektiert und produziert hatten, […] wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten herumlungern“, war das für den Mainstream noch zu früh. Heute, wo ‚wir‘ inzwischen mehrheitlich als hominide Kulis ‚unseren‘ Gadgets hinterhertrotten, scheint es dafür fast wieder zu spät. Im Leben wie in seinen Schriften stand Anders stets in scharfem Gegensatz zu seiner Zeit. Und bleibt doch in dem Maße immer aktuell, wie seine einstigen „Übertreibungen in Richtung Wahrheit“ sich in der jeweiligen Gegenwart als neuer Standard von Gefährdung, Entwürdigung oder Vernichtung Bahn brechen.
1902 als Günther Stern geboren, ist Anders heute hauptsächlich als Technikkritiker (vgl. sein philosophisches Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“, 1956/1980), Anti-Atom(kriegs)-Aktivist (vgl. u.a. „Off Limits für das Gewissen“ von 1961) und als erster Ehemann von Hannah Arendt bekannt. Weniger bekannt ist, dass er auch als Literaturkritiker – in Buchform etwa: „Kafka, pro und contra. Die Prozeßunterlagen“ (1951) – hervorgetreten ist, ja dass der größere Teil seiner schriftstellerischen Produktion Genres galt, die traditionell der Dichtung zugerechnet werden, auch wenn vieles davon stark verzögert und manches erst posthum erschien. Sein literarisches Gattungsspektrum reicht von der in den 1930er Jahren geschriebenen Großfabel „Die molussische Katakombe“ (ed. 1992; erw. 2012) über Aphorismen („Philosophische Stenogramme“, 1965), Fabeln („Der Blick vom Turm“, 1968), „Tagebücher und Gedichte“ (vgl. den gleichnamigen Sammelband von 1985) und „Erzählungen“ (1978) bis zum späten Lehrgedicht „Mariechen. Eine Gutenachtgeschichte für Liebende, Philosophen und Angehörige anderer Berufsgruppen“ (1987).
Trotz dieser Fülle wäre es dennoch verfehlt, den zu entdeckenden Dichter Anders gegen den einschlägigen Essayisten, Moralisten oder Philosophen ausspielen zu wollen. Im Gegenteil möchte das Seminar an ausgewählten Beispielen der Frage nachgehen, ob dessen Werk bei aller Vielgestalt nicht doch als große Einheit zu begreifen sei, als genuine Stimme, die lehrend nie zu dichten und dichtend nie zu lehren aufhört. Nur dass es hier – anders als einst bei Lukrez – nicht mehr um den Bau der Welt, sondern um deren Zerstörung geht.