HNDL/SFNL I-V / HAESTH: Klassismus, Arbeiterliteratur, Autosoziobiographisches Schreiben im internationalen Kontext
Dozent:innen: Dr. Carsten JakobiKurzname: HNDL
Kurs-Nr.: 05.067.1130
Kurstyp: Seminar/Hauptseminar
Anwesenheitspflicht
Die wöchentliche Anwesenheit ist dringend erwünscht und trägt erfahrungsgemäß zum besseren Lernerfolg und besseren Prüfungsleistungen bei.
Empfohlene Literatur
Zur ersten Orientierung:
Blome, Eva Rückkehr zur Herkunft. Autosoziobiografien erzählen von der Klassengesellschaft: In: DVjs 94/2020, S. 541-571. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-64367-9_1
Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. In: Günther Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Darmstadt 1989, S. 214-257.
Literatur zur Klassenfrage:
Bourdieu, Pierre: Die konservative Schule. Die soziale Chancenungleichheit gegenüber Schule und Kultur. In: Pierre Bourdieu: Schriften zu Politik & Kultur. Bd. 4: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hrsg. von Margarete Steinrücke. Hamburg 2001, S. 25-52.
Decker, Peter/Hecker, Konrad: Das Proletariat. München 2002.
Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt/M., New York 2021.
Inhalt
Der kommunistische Komponist Hanns Eisler diagnostizierte 1961: „Wo gibt es den Plebejer in der deutschen Literatur? Bei Thomas Mann kommt er in drei Zeilen vor, in den ‚Buddenbrooks‘ – als Witz.“ In antikisierender Semantik („Plebejer“) ist dies Eislers Variation der oft gestellten Frage, warum sich in der Literatur (die spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine genuin bürgerliche Veranstaltung ist, sowohl was ihre Trägerschicht als auch ihre Thematik betrifft) nur in verschwindendem Maße Arbeiterfiguren tummeln. Erst mit Büchners Woyzeck wird ein Pauper dramenfähig, und trotz der rasanten Entwicklung eines industriellen Proletariats im 19. Jahrhundert sind Arbeiter:innen in den allermeisten Fällen bestenfalls ‚interessante‘ Neben- bis Kleinfiguren – in den Werken bürgerlicher Autor:innen. Dennoch gibt es seit dieser Zeit im Zusammenhang mit der Konstitution einer organsierten Arbeiter:innenbewegung auch Ansätze einer proletarischen Literatur, und zwar häufig mit autobiographischen Bezügen oder gleich als Autobiographie von Autoren, die den „Volksklassen“ entstammen, am bekanntesten der Russe Maxim Gorki und der Däne Martin Andersen Nexø – oft auch in Anlehnung an den Bildungsroman, also eine originär bürgerliche Literaturgattung. Aber noch 1968 musste Martin Walser im Vorwort zu Erika Runges Bottroper Protokollen feststellen: „Alle Literatur ist bürgerlich. Bei uns. […] Arbeiter kommen in ihr vor wie Gänseblümchen, Ägypter, Sonnenstaub, Kreuzritter und Kondensstreifen.“ Auch heute ist ein Großteil der produzierten, publizierten, gelesenen und rezensierten Literatur schematischer Mittelstandsdiskurs.
In einer Gegenbewegung hat sich ungefähr seit Beginn des 21. Jahrhunderts in Europa, vor allem in Frankreich, eine minoritäre autobiographische Literatur von Autor:innen aus proletarischen und lumpenproletarischen Milieus entwickelt – allesamt Kinder, denen eine soziologisch untypische bis unwahrscheinliche Bildungskarriere (höhere Schule, Universität, schreibende Berufstätigkeit) gelungen ist. Was sie verfassen, ist von der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux „Autosoziobiographie“ genannt worden. Indem sie von sich schreiben, schreiben sie von ihrer Klasse. Dabei entsteht, siehe Ernaux, eine ästhetisch hochambitionierte Literatur, die zugleich eine düstere politisch-soziale Diagnose unserer Gegenwart formulieren. Diese Literatur hat ihre sozialwissenschaftlichen Parallelen und ihren Stoff im Phänomen des „Klassismus“, einer Diskriminierungspraxis aufgrund der sozialen Herkunft.
Diesem Thema wird sich das Seminar widmen. Wir werden uns zunächst einen Grundbegriff von „Arbeiterliteratur“ verschaffen und dabei auch einen orientierenden Blick auf ältere ausländische Werke werfen (neben skandinavischen auch englische, z.B. Alan Sillitoes The Loneliness of the Long-Distance Runner / Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, 1959). Auch ein Seitenblick auf die DDR-Literatur (Bitterfelder Weg, Ankunftsliteratur, z.B. Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag, 1961) und Außenseiter der BRD-Literatur (z. B. Ludwig Fels, Mein Land, 1978) wird unternommen. In der Gegenwart hat neben Annie Ernaux (Les Années / Die Jahre, 2008) vor allem der französische Soziologe Didier Eribon (Retour à Reims / Rückkehr nach Reims, 2009) eine genreprägende Rolle gespielt, die auch in Deutschland musterbildend wurde: am bekanntesten bei Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse, 2020). Lernen lässt sich daraus nebst anderem, dass Kinder aus Armutshaushalten vor Hunger Schimmel von den feuchten Wänden der elterlichen Wohnung fressen, in einem von Reichtum berstenden Land, in dem Armut nur noch als Problem des Bundeshaushaltes („Bürgergeld“) thematisiert wird.
Auch sollen uns soziologisch-politökonomische Analysen gegenwärtiger Kapitalismuskritik interessieren, die in engem Zusammenhang mit den literarischen Werken stehen: Pierre Bourdieus bildungstheoretische Analysen der „Feinen Unterschiede“, Sarah Wagenknechts sozialkonservative, tendenziell völkische Polemiken gegen den Kapitalismus und für die Marktwirtschaft oder marxistische Bestimmungen des Proletariats.
Alle fremdsprachigen Texte werden in den deutschen Übersetzungen behandelt. Teilnehmer:innen mit Französisch-Kenntnissen bzw. komparatistischen Interessen sind natürlich willkommen.
Das Seminar wird sich neben literarischen Texten auch mit dem europäischen westeuropäischen Bildungssystem als der zentralen Sozialisationsinstanz jeden kindlichen und jugendlichen Lebenslaufes befassen und setzt insofern bei den Teilnehmer:innen auch die Bereitschaft zur Reflexion des eigenen Bildungsprozesses bis zum universitären Studium und in vielen Fällen der Vorbereitung auf einen Lehrberuf voraus. Nichtsdestoweniger ist es keine fachdidaktische, sondern eine genuin interdisziplinäre sozialwissenschaftlich-literaturwissenschaftliche Veranstaltung, die sich ausdrücklich auch an Student:innen aus dem fachwissenschaftlichen MA-Studiengang richtet, die ein Interesse an einem europäischen literarischen Phänomen der Gegenwart haben.
Termine
| Datum (Wochentag) | Zeit | Ort |
|---|---|---|
| 31.10.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 07.11.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 14.11.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 21.11.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 28.11.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 05.12.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 12.12.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 19.12.2025 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 09.01.2026 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 16.01.2026 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 23.01.2026 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 30.01.2026 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 06.02.2026 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
| 13.02.2026 (Freitag) | 10:15 - 11:45 | 00 025 SR 03 9125 - Bausparkasse Mainz |
