Lehre am Deutschen Institut

SGNL I/II: Epische Längen

Dozent:innen: Dr. Johannes Ullmaier
Kurzname: SGNL I
Kurs-Nr.: 05.067.880
Kurstyp: Seminar

Empfohlene Literatur


Textgrundlage:
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Hg. v. Benedikt Jeßing. Stuttgart: Reclam 2005.
 
Zur Einführung:
Matz, Wolfgang: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter. Die Entdeckung der modernen Literatur. Göttingen: Wallstein 2021.

Inhalt

Wenn im Klappentext eines Romans beteuert wird, dieser sei ‚keine Sekunde langweilig‘, muss man sich auf große Langeweile gefasst machen. Doch nicht jede Narration mit langem Atem ist notwendig langatmig, im Gegenteil: Wer gerne liest, findet die kurzweiligsten Lesestrecken oft in langen Texten.
Das Seminar „Epische Längen“ blickt und begibt sich auf die Gratwanderung großer Erzählmassive: Im Idealfall führt diese ins Paradies Epischer Breite, also auf einen Zeichenpfad, der die Welt, durch die er führt, so tiefenscharf und mannigfaltig zeigt, dass sie wie die wirkliche erscheint, nur tendenziell interessanter, weshalb man sie gebannt und gern durchwandert, möge das Buch nie enden! Auf der realen Lesestrecke jedoch drohen nach allen Seiten umwegige Längen, wie sie in Kurztexten zwar auch begegnen können, auf der Langstrecke aber naturgemäß mehr schlauchen: Puh, das zieht sich... Wann passiert denn wieder was? ... Wozu soll ich das jetzt wissen? ... Uff, noch so und soviel Seiten... Ich vertue hier meine Zeit, blättere mal etwas vor – überfliege – breche ab.
So nah Gefahr und Glück hier beieinander liegen, so fern scheint eine allgemeine Antwort auf die Frage, die dem Seminar zugrundeliegt: Wie korrelieren Breite, Länge und Langeweile in Erzähltexten? Oder zeitlich aufgefasst: Woran bemisst sich das Verhältnis zwischen der qua Zeichenzahl oder Vortragslänge objektivierbaren Erzählzeit einerseits und der jeweils subjektiv empfundenen Erzähldauer andererseits? Wann und warum rauschen die Seiten oder Stunden manchmal wie im Flug vorbei oder kriechen Zeilen und Sekunden zäh dahin? Oder unter hermeneutischem Aspekt: Welche Weltbreiten und Überlängen stecken jeweils im Text selbst und welche in der Rezeptionsinstanz? Und wie (un)bewusst bzw. (un)freiwillig kommt die Relation jeweils zustande?
Sicher gibt es klare Fälle: Wenn jemand etwa auf sehr umständliche Weise und unter Hinzufügung von allen möglichen Textbestandteilen, die wie dieser Relativsatz zum Geschehen eigentlich nichts Wesentliches beisteuern und sich trotzdem sehr lang weiterwinden, ohne ein Ende zu finden, obwohl de facto nichts mehr kommt, wenn also auf diese redundante Art erzählt wird, dass jemand zum Beispiel gestern eine Straße überquert hat, indem er mit dem linken Fuß einen Schritt getan hat und dann mit dem rechten Fuß noch einen Schritt, und dann, nachdem er diesen Schritt getan hatte, wieder mit dem linken Fuß noch einen Schritt und dann wieder einen Schritt, diesmal aber wieder mit dem rechten Fuß – und so weiter über tausend Seiten, dürfte abgesehen von einigen ungewöhnlich einjustierten Menschen kaum jemand zu finden sein, die/der das nicht total langweilig findet und sich mit so gut wie allen anderen darüber einig ist, dass es am Text liegt. Umgekehrt mag es Leute geben, denen jede noch so tief- und ergreifende, anschauliche oder spannende Erzählung prinzipiell zu lang ist, weil sie von Geschichten, Texten oder überhaupt von allem gelangweilt sind (oder tun), was dann – abermals ganz klar – an ihnen liegt.
Komplizierter als an diesen beiden Extrempolen, aber auch entsprechend aufschlussreicher gestalten sich die Verhältnisse in den vielfältigen Zwischenlagen, wo bestimmte Erzählinhalte und Erzählformen sich mit bestimmten rezeptiven Voraussetzungen, Vorerfahrungen oder Erwartungen zu differenten Perzeptionserlebnissen und Einschätzungen fügen. Solche gilt es im Seminarrahmen gezielt zu generieren und mit Blick auf die leitenden Fragen zu analysieren. Das bietet zudem Anlass zur vertiefenden Rekapitulation und exemplarischen Applikation des narratologischen Theoriestands und mag auch praktisch helfen, sich und andere beim Erzählen künftig nicht mehr oder weniger zu langweilen, als man selber will.
Um eine gemeinsame Bezugsgröße zu haben, empfiehlt sich als zentrale Textgrundlage jener Roman, der in der deutschsprachigen Literaturgeschichte unangefochten als der gähnialste gilt: Adalbert Stifters "Nachsommer" aus dem Jahr 1857. Kaum ein Erzähltext verstößt – abgesehen von Stifters eigenem, noch heftigerem Nachschlag "Witiko" (1865-67) – derart entschieden gegen alles, was bis heute in jedem Spannungsratgeber steht. Und kaum einer hat, seit Friedrich Hebbels frühem Verriss, so prominent und ausdauernd Wut bis Verzweiflung über seine ungeheure Fadheit produziert. Werden andere Werke als Klassiker allmählich langweilig, so wurde der "Nachsommer" als Langweiler allmählich klassisch. Damit ragt er aus der Ödnis vergessener Schlafschmöker heraus, behält als Lektüretest bis heute seinen Stachel und ist so wie kein anderer Reclam-Band prädestiniert für den seminardidaktischen Höllentrip ins Schwarze Loch der Langeweile.
Doch selbst hier ist Leseüberdruss nicht garantiert, wirkt die Dialektik epischer Längen doch im Zweifelsfall nach beiden Richtungen: So, wie eine Erzählung, die ‚eigentlich‘ nicht langweilig ist oder es bislang nicht war, es unter bestimmten Voraussetzungen werden kann, kann auch eine ‚eigentlich‘ langweilige unversehens unlangweilig werden – was im Lektüreprozess zu beobachten und zu reflektieren wiederum sehr spannend sein kann: Denn wie geht das zu? Warum sind die vormals langweiligen Inhalte und Formulierungen auf einmal nicht mehr langweilig? Kommt da etwa plötzlich etwas wirklich Interessantes? Oder hat man sich schon derart an die Voll-Langweiligkeit gewöhnt, dass schon Halb- oder Dreiviertel-Langweiliges dagegen fesselnd wirkt? Oder ist doch alles noch genau wie vorher, nur dass die Langweile plötzlich selbst erträglich oder gar erstrebenswert geworden ist? Weil es sich in ihr bequemer lebt als bei vielem, was man sonst tun könnte oder müsste? Weil sie Einkehr und Beruhigung spendet? Oder weil sie vielleicht etwas eröffnet, was in einer Medienwelt, wo Längen systematisch ausgerottet werden, unvermutet kostbar wird.

Termine

Datum (Wochentag) Zeit Ort
29.10.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
05.11.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
12.11.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
19.11.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
26.11.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
03.12.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
10.12.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
17.12.2025 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
07.01.2026 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
14.01.2026 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
21.01.2026 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
28.01.2026 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
04.02.2026 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude
11.02.2026 (Mittwoch) 10:15 - 11:45 02 463 P207
1141 - Philosophisches Seminargebäude