Augenblick und Ewigkeit in der Lyrik

Sommersemester 2017

In seinem „Sachwörterbuch der Literatur“ (8. Aufl.) befindet Gero von Wilpert unter dem Stichwort „Lyrik“: „Nicht die Intensität des verdichteten Gefühls, die Erlebnisstärke und die Tiefe der Empfindung allein, auch die Durchdringung, Verdichtung und Bewegung des Sprachmaterials zu sprachkünstlerischer Gestaltung sind wesentliche Kriterien der Lyrik, denn sie erst geben der einmaligen Empfindung zeitlos-gegenwärtige Form. Die ungestaltete, aus bloßem Einfall und Augenblicksstimmung herausströmende Aussage gerät in Gefahr des Zerfließens und konkretisiert sich daher zu sinnverdichtender Kürze an Bildern, Symbolen und Chiffren.“
Mag das in solcher Allgemeinheit auch weder unter Lyrikern noch in der neueren Forschung konsensfähig sein, so pointiert es doch ein zeitkategoriales Spannungsfeld, in dem das Lyrische sich scheinbar paradox ereignet: die Dialektik von Augenblick und Ewigkeit als markante Nahstellung sowohl zum punktuellen Minimum wie zum totalen Maximum an Zeit – unter besonderer Nichtberücksichtigung aller mittleren Zeitmaße, wie sie im Drama oder in der Epik dominieren. Im Gedicht tritt diese Zeitpolarität in den verschiedensten Konstellationen auf und wird dort oft auch explizit verhandelt, wobei das Pendel weit zum einen oder anderen Pol ausschlagen, beides aber auch ineinsfallen kann – wie in Goethes „Vermächtnis“, wo es gravitätisch heißt: „Der Augenblick ist Ewigkeit.“ Aber was meint das? Wie nuanciert es sich etwa gegenüber benachbarten Formulierungen wie „Ein Augenblick ist Ewigkeit“, „Die Ewigkeit ist Augenblick“, „Der Augenblick wird Ewigkeit“ oder „Die Gegenwart ist Ewigkeit“?
Ziel des Seminars ist es, die lyrische Figuration der zeitlichen Extreme und ihrer möglichen Vermittlung als Thema wie Gestaltungselement an nicht zu vielen, dafür jeweils umso intensiver zu befragenden und untereinander zu differenzierenden Beispielen zu erkunden, unter anderem von Angelus Silesius, Gryphius, Goethe, Hölderlin, Eichendorff, Droste-Hülshoff, Mörike, Rilke, Hofmannsthal, Benn, Celan, Bachmann, Brinkmann und Ernst Meister. Die literaturhistorische Chronologie gliedert dabei den globalen Ablauf, kann aber lokal zu jeder Zeit in Richtung Null oder Unendlich ausscheren.