Das Jahrespanorama

Wintersemester 2019/20

Wie lässt sich ein Jahr darstellen? Üblicherweise vor allem chronologisch, sei es ex post tabellarisch-historisch oder als Jahresrückblick, ob im TV, als Print- oder als Clickstrecke; oder fortlaufend als Tagebuch, Chronik, Timeline oder Blog, in der Literatur etwa als „Tagebuch eines Jahres“ wie das von Gregor Sander (2013, erschienen 2014), klassisch als „Jahrestage“ (Uwe Johnson, 1967-8/1970), als „Roman eines Jahres“ (Rainald Goetz, Blog und Buch: „Abfall für alle“, 1998/99) oder als „Chronik der laufenden Ereignisse“ (Peter Handke, Film und (Dreh-)Buch, 1969/71).
Die sukzessive Gliederung nach aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten scheint dabei naturgegeben, schließlich rollt das Jahr ja auch von Monat zu Monat, Tag zu Tag und von Sekunde zu Sekunde ab. Umso interessanter wird es aber, wenn in der textlichen bzw. medialen Präsentation plötzlich auch Neben- und Überblicksmomente aufscheinen oder bewusst erzeugt werden, Effekte des Querschnitts und der unvermuteten Zusammenschau, kurzum: wenn das Jahr zum Panorama und die Buchform zum Tableau wird.
Dass hier offenbar Bedarf besteht, bezeugt seit Erfolgen wie Hans Ulrich Gumbrechts „1926“ (2001) und spätestens seit Florian Illies’ Bestseller „1913“ (2012; Nachtrag 2018) eine ganze Flut an ‚Jahresbüchern‘ unterschiedlichster Gebiete und Gattungen, von „1517“ (Heinz Schilling, 2017) über „1919“ (Brigitte Förster, 2018; Herbert Kapfer, 2019; Jörg Sobiella, 2019), „1965“ (Andrew Grant Jackson, 2015), „1966“ (Frank Schäfer, 2016), „1967“ (Ernst Hofacker, 2016; Gerhard Kaiser, 2017), nicht mehr zählbare „1968“-Bücher, „1979“ (Frank Bösch, 2019) bis zum literarischen „Wendejahr“ „1995“ (hg. von Heribert Tommek u.a., 2015), jüngst noch enggeführt bis zur „Biographie eines Tages“, nämlich des „20. Juli 1944“ (als Graphic Novel von Niels Schröder, 2019).
Obwohl auch diese Bücher überwiegend chronologisch angelegt sind, verfolgen sie doch durchweg Ziele, die über das rein Chronikalische hinausreichen: einerseits global – indem sie ‚ihr‘ Zeitstück im weltgeschichtlichen Panorama als besonders exemplarisch, wichtig, wegbestimmend oder folgenreich erweisen wollen; und andererseits lokal – indem sie Zuständliches wie dessen Atmosphäre, Stimmung, Farbe, Idee oder Gegenwartsstruktur einzufangen, mithin ein Jahrespanorama auszubreiten suchen. Wie und inwieweit das jeweils gelingt, soll im Seminar an ausgewählten Beispielen untersucht werden.
Eine Perspektiverweiterung erhält die Veranstaltung dadurch, dass sie Zugang zu der Software „Herodot“ bietet, mit der sich Zeitkarten bzw. „Pinnwände“, sprich: historische Zeitpanoramen gezielt aus einem großen Datenbestand generieren, heuristisch auswerten und selbständig erweitern lassen. Diese neuen Möglichkeiten sollen ausgiebig erprobt werden – nicht zuletzt, um sich im Gebrauch zukunftsweisender Lern- bzw. Lehrtools zu üben, sie den klassischen Printformen vergleichend gegenüberzustellen und sich über die jeweiligen Vorteile und Grenzen klarzuwerden.