Der Verriss

Wintersemester 2014/15

Es gibt Werke, deren größtes Verdienst darin besteht, so aufreizend schlecht zu sein oder zu scheinen, dass sie zu guten Verrissen Anlass geben. Indes bleibt der Verriss, so triftig, glänzend und vernichtend er auch sei, unweigerlich an sein Objekt gebunden. Und schleppt dieses, wo er zum Klassiker der Gattung wird, als vorbildlich entsorgten Müll mit durch die Ewigkeit. Im besten Fall. Im schlimmeren erweist sich das Verrissene späteren Augen als gar nicht so schlimm oder gar selber klassisch. Und der Verriss damit als Zeugnis idiosynkratischer Verblendung oder persönlichen Ressentiments.
Doch so melancholisch der Verriss sub specie aeternitatis wirkt, so unverzichtbar ist er jeder aktuellen Gegenwart. Je emphatischer und niveauvoller in einer Kultursphäre etwas verrissen werden kann, desto lebendiger wirkt sie. Wo dagegen kein Verriss mehr möglich ist, gibt es auch kein Gelingen mehr. Nur noch Routine und Reklame.
Den literaturkritischen Kampf gegen das literarische Ärgernis gemeinsam über einige Stationen zu verfolgen, ist Gegenstand der Übung. Natürlich kommt sie dabei nicht umhin, Verriss und Verrissenes einander jeweils gegenüberzustellen. Denn erst dadurch wird es möglich, zwischen den fallspezifischen Auf- und Abrissmaßnahmen sowie deren Berechtigung einerseits und Elementen einer allgemeinen Genre-Rhetorik der Aufspießung und Abfertigung andererseits zu differenzieren und so längerfristige Tendenzen und Verschiebungen zu sehen.
Auf dem Programm: Schiller über Bürger, Friedrich Schlegel über Jacobi, Börne über E.T.A. Hoffmann, Heine über Uhland, Fontane über Freytag, Kerr über Sudermann, Deschner über Hesse, Enzensberger über die Anthologie „Movens“, Henscheid über Elsner, Reich-Ranicki über Grass. Weitere Beispiele bis zur Gegenwart sind willkommen.