Deutschsprachige Metrik von Knittelvers bis Doubletime

Sommersemester 2019

Um 1970 hätte man im deutschsprachigen Raum den Eindruck gewinnen können, der metrisch gebundene Vers – und mit ihm der Reim – seien endgültig passé. In der Hochlyrik von einigen Avantgardisten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts für obsolet erklärt, wirkten Reim und Vers im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend ausgereizt und überlebten spätestens ab 1950 – diesseits epigonaler Zirkel – nur noch in der Nonsensdichtung, Werbung, Büttenrede oder Populärkultur, im Kinderlied, Couplet, Schlager und Song. Die ernste Lyrik tendierte dagegen immer entschiedener zum reimlosen und freien Vers, der für Außenstehende oft nur noch durch gehäufte Zeilenumbrüche von der Prosa unterscheidbar war.
Unterdes entstand um 1970 in den USA mit dem Rap eine neue Vers- und Reimkultur, die ab den frühen 1980ern auch im deutschsprachigen Raum adaptiert wurde und sich in einigen Städtezentren zu markanten Substilen ausdifferenzierte. Parallel dazu entwickelten manche der teils vers- und teils auch reimaffinen Song-Pop-Szenen, am prominentesten die sogenannte Hamburger Schule, mehr und mehr Nähe zur Hochliteratur. Und spätestens um die Jahrtausendwende begannen auch deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker wieder in größerer Zahl, sich mit klassischen Vers- und Strophenformen auseinanderzusetzen.
Ausgehend von einschlägigen Metriktheorien (Heusler, Kayser, Wagenknecht, Breuer, Albertsen; und zum anglophonen Abgleich: Derek Attridge, „Poetic Rhythm“) versucht das Seminar zunächst, die Geschichte der deutschsprachigen Metrik an exemplarischen Stationen vom 16. Jahrhundert über die Opitzsche Versreform, die antikisierende Periode und die romantische Volks- bzw. Kunstlied-Epoche nachzuvollziehen. Das Hauptaugenmerk soll dann aber neueren und neuesten Phänomenen gelten, vor allem der Frage, inwieweit die Kategorien und Notationsformen der traditionsbezogenen Metriken geeignet sind, Phänomene wie „Flow“ oder „Doubletime“ adäquat zu charakterisieren.