Erzählen im Präsens

 

Sommersemester 2015

In welchem Tempus wird erzählt? In der Dichtung traditionell meist im epischen Präteritum („Es war einmal...“), im Alltag dagegen meist im Perfekt („Gestern bin ich gestürzt...“). Hier wie dort gibt es allerdings auch Ausnahmen oder Kombinationen, etwa beim präsens historicum („Vor einer Woche waren wir angeln, kommt da auf einmal dieser Typ...“). Oder die Erzählinstanz benutzt, wie in der Belletristik neuerdings immer selbstverständlicher, scheinbar unmarkiert durchgehend das Präsens („Die Sonne bröckelt. Wenn im Speisesaal Betrieb herrscht, versetzen die schweren Schritte alles in Schwingung...“) – und zwar unabhängig davon, ob das Geschilderte in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft situiert ist, sofern diese überhaupt zu trennen sind.
Schon länger ist man sich in Poetologie und Narratologie darüber einig, dass die Wahl des Erzähltempus, so intuitiv sie oft getroffen wird, weder zufällig geschieht noch ohne weitreichende Konsequenzen für den Wirklichkeitsbezug des jeweiligen Textes bleibt. Nicht einig ist man sich dagegen darüber, worin genau diese Konsequenzen liegen. Mit ihrem Buch „Präsens. Poetik eines Tempus“ haben Armen Avanessian und Anke Hennig die Diskussion jüngst wiederaufgenommen und eigene Lösungen präsentiert. Ziel der Übung ist es, ausgehend vom dortigen Thesenstand und dessen historischem bzw. systematischem Bezugspunkten (Bühler, Hamburger, Weinrich bzw. Gustave Guillaume), an ausgewählten Textbeispielen die Möglichkeiten und Grenzen einzelner Tempusformen – und zentral des Präsens – zu erproben und zu diskutieren.