Lehre am Deutschen Institut

SFNL I/II/SGNL: Die Rückblende

Dozent:innen: Dr. Johannes Ullmaier
Kurzname: SFNL
Kurs-Nr.: 05.067.778
Kurstyp: Seminar

Empfohlene Literatur

Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Matías Martínez. Stuttgart 2017, S. 11–12.
Filmanalyse. Hg. v. Oliver Keutzer/Sebastian Lauritz/Claudia Mehlinger/Peter Moorman. Wiesbaden 2014 (= Film, Fernsehen, Neue Medien).

Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchges. und korr. Aufl. Paderborn 2010 (=UTB; 8083), S. 27–39.

Huwiler, Elke: Erzähl-Ströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst. Paderborn 2006, S.149–162.

Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin [u.a.] (= narratologia contributions to narrative theory; 26), S. 195–201.

Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse. 3. akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 2016, S. 147–152.

Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. 8., unveränd. Aufl. Stuttgart 1991, S. 100–128.

Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarb. und aktual. Aufl. München 2016.
Studienhandbuch Filmanalyse. Ästhetik und Dramaturgie des Spielfilms. Hg. v. Benjamin Beil/Jürgen Kühnel/Christian Neuhaus. 2., akt. Aufl. Paderborn 2012 (= utb 8499).

Rückwärtsvorgänge. Retrogrades Erzählen in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Hg. v. Mona Körte. Berlin 2020 (= Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Philologie; 138).

Zeiten Erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Hg. v. Antonius Weixler/Lukas Werner. Berlin [u.a.] 2015 (= narratologia contributions to narrative theory; 48).

Inhalt

In der realen Welt kann niemand in der Zeit zurück. Mittels medialer Repräsentation ist das aber in gewissem Sinn doch möglich. Erzählt man Anderen etwas, was man am Tag zuvor erlebt hat, und tut das nicht bloß informierend, sondern lebhaft, anschaulich und szenisch, so entführt man alle (inklusive seiner selbst) quasi ins Gestern – und ist darin womöglich so gebannt, dass der eigene Mund, der das gerade erzählt, die zuhörenden Ohren, die beteiligten Gehirne, Nerven, Zwerchfelle währenddessen wie verschwunden wirken. Im Anschluss findet man sich jedoch automatisch in der Kontinuität der Gegenwart, von der die temporäre Reise ins Vergangene ausging, wieder – nur um die Dauer des Erzählakts fortgerückt.
Nun ist Erzählen aber längst nicht mehr stets an eine reale Situation gebunden. Denn sobald eine Erzählung einmal – wie ein Schrifttext, Film, Hörbuch oder Streaming-Angebot – fixiert und greifbar archiviert ist (was in lockererer Form auch schon für memorierte Märchen, Witze oder Anekdoten gilt), tritt und fällt sie aus der Selbstverständlichkeit einer konkreten Gegenwart heraus. Damit entstehen viele neue Möglichkeiten, vor allem die, solche Erzählungen im Prinzip zu jeder Zeit realisieren zu können, also den Roman im Buch sofort oder in zwanzig Jahren (oder nie) zu lesen, den Witz jetzt oder später zu erzählen. Und auch inhaltlich wird dadurch vieles möglich, was im alltäglichen Spontanerzählen eher irritierend wäre: größere Handlungsbögen, mehrere Stränge, breitere Beschreibungen, direkte Einblicke ins Innere von anderen Personen – bis hin zu phantastischen Welten, in denen man ewig leben, in der Zeit stehenbleiben oder sich in ihr vor und zurück bewegen kann.
Dafür muss man solche Erzählungen aber erst auffinden, aus dem Speicher holen und sich selbstständig vergegenwärtigen, sich also etwa das Buch besorgen und aufschlagen oder im Streaming-Portal etwas auswählen und auf Play drücken – und dann auf den Inhalt achten, gleich ob dieser schrift-visuell (als Text auf dem Papier oder Bildschirm), auditiv (als Hörspiel oder Hörbuch), bildvisuell (als Stummfilm oder Bilderbogen), schrift-/bild-visuell (als Comic) oder audiovisuell (als Tonfilm) präsentiert wird.
In allen Fällen verschwindet dabei allerdings die Selbstverständlichkeit der jeweiligen Gegenwartsumgebung. Denn die Erzählung kommt nun nicht mehr einfach aus dem Hier und Jetzt und ist darin fraglos situiert, sondern muss ihre eigene Gegenwärtigkeit medial erst etablieren. Im Film geht das meist ‚wie von selbst‘, denn was man auf der Leinwand oder auf dem Display vor sich gehen sieht, passiert ‚dort‘ – auch wenn es faktisch schon Vergangenes zeigt (z.B. jugendliche Stars, die mittlerweile tot sind) – quasi automatisch ‚jetzt‘, d.h. im Jetzt der filmischen Erzählung.
Will die Filmerzählung ihrerseits in die Vergangenheit zurück, muss sie das daher eigens anzeigen. In der Filmgeschichte wurden dazu viele Möglichkeiten ausprobiert. Mittlerweile haben sich hierzu einige Konventionen und die Bezeichnung ‚Rückblende‘ eingebürgert. Entsprechend wird man etwa, wenn das Bild verfließt oder von farbig in Schwarzweiß umschlägt, intuitiv verstehen: ‚Ah, wir verlassen jetzt die Gegenwart der Filmerzählung und gehen in deren Vergangenheit!‘ Und umgekehrt, d.h. wenn das Bild nochmal verschwimmt oder wieder farbig wird: ‚Ah, jetzt hat die Vergangenheitssequenz geendet und wir sind wieder in der Gegenwart (des Films)!“
Mit den umgebenden Gegenwarten passiert dabei jedoch höchst Unterschiedliches: Denn während die reale Zeit der Gegenwart, in der man zusieht, einfach weitergeht (und zwar ganz gleich, auf welcher Zeitebene des Films man sich befindet), gibt es bei der Filmerzählungszeit auch hier verschiedene Optionen: Sie kann quasi (wie die reale) nebenher weitergelaufen sein, vielleicht sogar genau so lang, wie die Rückblende gedauert hat, vielleicht aber auch kürzer oder länger. Und oft weiß man es gar nicht genau. Außerdem ist es auch möglich, dass die Filmerzählung gar nicht mehr in die ‚Ausgangsgegenwart‘ zurückspringt, sondern zu einem anderen Erzählstrang wechselt, oder dass sie auf Dauer im Vergangenen verbleibt, oder von dort sogar noch weiter ins Vorvergangene springt – und das womöglich mehrfach.
Je nachdem, wie aufmerksam man zuschaut, weiß man zwar noch, dass man hier Vergangenes oder Vorvergangenes sieht und die erzählte Handlung ‚eigentlich schon weiter‘ war bzw. ist, doch das, was man sieht, ist bzw. wird – zumal dann, wenn es länger dauert und selbst packend ist – ja wieder ‚Gegenwart‘, während die umgebende Gegenwart des aktuellen Filmerzählungsstands im wahrsten Sinn zunehmend aus dem Blick gerät, vielleicht sogar vergessen wird. Auch kann jemand, der erst später dazukommt, während der Film gerade in der Rückblende verweilt, diese nicht ohne weiteres als solche identifizieren.
Bei Texten ist es noch komplizierter, weil die Quasi-Gegenwart hier nicht einfach ‚gesetzt‘ ist beim Film. Auditiv mag es im Grenzfall noch gelingen, dass eine Stimme einen aus dem Lautsprecher heraus quasi ganz unvermittelt in die Gegenwart ihrer (wie beim Film als solche schon vergangenen) Erzählung wirft. Aber mit Blick auf Schrift bzw. eine Zeichenkette ist nicht automatisch eine andere Quasi-Gegenwart gesetzt. Es könnte ja genauso gut auch eine juristische Abhandlung sein. Ein Text muss also mehr tun, wenn er einen in eine eigene (Quasi-)Gegenwart versetzen möchte. Und noch mehr, wenn er aus dieser dann in deren Vergangenheit will. Auch dafür gibt es Konventionen und einen Fachbegriff, nämlich ‚Analepse‘. Die Narratologie hat hier feinteilige Unterscheidungen vorgenommen, setzt dabei aber meist erst bei der fiktionalen Schrifterzählung an und wendet sowohl auf die außertextuelle Gegenwart wie auf die innertextuellen Quasi-Gegenwarten wenig Augenmerk.
Ziel des Seminars ist es daher, die literaturwissenschaftlich gängigen Konzeptionen von ‚Rückblende‘ und ‚Analepse‘ zunächst vergleichend zu rekonstruieren und dann anhand von möglichst überschauen Beispielen sowie – als größerer Einheit – Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ (1888) – zu untersuchen. Dabei soll der Abgleich mit der Film-Rückblende und den ‚Rückblende‘-Optionen in der realen Gegenwart eine zentrale Rolle spielen.

Termine

Datum (Wochentag) Zeit Ort
24.10.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
31.10.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
07.11.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
14.11.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
21.11.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
28.11.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
05.12.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
12.12.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
19.12.2024 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
09.01.2025 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
16.01.2025 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
23.01.2025 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
30.01.2025 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude
06.02.2025 (Donnerstag) 14:15 - 15:45 00 465 P12
1141 - Philosophisches Seminargebäude