Literatur der Überwachung

Sommersemester 2018

Schon immer haben Menschen Andere beobachtet. Und schon früh dürfte die Intensität und Asymmetrie der Beobachtung in vorzeitlichen Horden, überschaubaren Gemeinden oder bei selbstfixierten Individuen manchmal ein Maß erreicht haben, das de facto einer Überwachung gleichkam. Allerdings stets bloß lokal – und darin in direktem Vorlauf zu heutigen Helikopter-Eltern, Nachbarschaftsspionen, Stalkern, Büro-Kontrollfreaks oder Selftrackern.
Erst mit der Herausbildung zentralisierter Verwaltungs-, Macht- und Medienstrukturen entstand die Möglichkeit und Realität einer umfassenden und systematischen Registrierung und damit Kontrolle größerer Wirklichkeitssegmente, wie sie das Begriffsschema von „Überwachung“ heute prägt. Im Zuge der globalen digitalen Vernetzung hat diese Entwicklung jüngst in kurzer Zeit eine Dynamik entfaltet, die in der Geschichte ohne Beispiel ist und deren Konsequenzen noch kaum zu ermessen sind. So unwahrscheinlich es zum Beispiel noch vor zwanzig Jahren gewesen wäre, dass Ihnen, wenn Sie diesen Text – damals in einem gedruckten Vorlesungsverzeichnis – gelesen hätten, jemand dabei zuschaut, ohne dass Sie es bemerken, so unwahrscheinlich ist es heute, dass Sie diesen Text gerade auf Ihrem Bildschirm lesen, ohne dass dabei mehrfach registriert würde, wann, wie lang, wie oft, was vorher/nachher etc..
Angesichts des komplexen und rasanten Realgeschehens scheint eine allgemeine Theorie und Typologie der Überwachung bislang auffällig unterentwickelt, wohl auch, weil die dafür nötige Zusammenschau sozialer, technischer, psychologischer, politischer, ökonomischer, (pseudo-)religiöser und medienästhetischer Aspekte im traditionellen Fächerkanon keinen Ort hat. Eher ad hoc und oft nur implizit wird daher unterschieden zwischen der Überwachung einzelner Individuen, spezifischer Gruppen oder gesamter Populationen bzw. Usergruppen, der Überwachung durch Einzelne, soziale Verbünde, staatliche Institutionen oder Konzerne, heimlich oder demonstrativ, verdachtsbezogen oder anlasslos, bloß registrierend oder sanktionierend, zeitversetzt, in real-time oder „präemptiv“, partiell bis total, ‚traditionell‘ oder edv-gestützt, offline oder online, mit oder ohne „KI“ usw.
So scheint es bis auf weiteres nicht überflüssig, sich auch aus kultur- und literaturhistorischer Perspektive mit der Geschichte und Struktur der Überwachung zu befassen und dabei zu fragen, was sich aus dem Wechselspiel von Kontroll-Utopien, realen Überwachungspraktiken und ihrer literarischen, mehrheitlich dystopischen Darstellung lernen lässt. Demgemäß wird sich das Seminar mit historischen Programmschriften wie Jeremy Benthams 1787 erschienenem Werk „Panoptikum“ (samt dessen Deutung durch Michel Foucault) und der Realgeschichte der Überwachung ebenso beschäftigen müssen wie mit (semi-)fiktionalen Gestaltungen, von klassischen Roman-Dystopien wie Jewgeni Samjatins „Wir“ (1920), Karin Boyes „Kallocain“ (1940) und George Orwells „1984“ (1949) über real- und aufzeichnungsmedienbasierte Überwachungsszenarien wie in den Spielfilmen von Francis Ford Coppola „The Conversation” (1973) und Florian Henckel von Donnersmarck „Das Leben der Anderen” (2006) bis zur posthumanen Internetgegenwart von Dave Eggers’ „The Circle” (2013) oder Mark-Uwe Klings „Qualityland“ (2017).