Narration und Tempus

Wintersemester 2018/19

„Jetzt IST es Mittag.“ „Zwei plus zwei IST vier.“ „Es IST zum Heulen.“ „In zehn Minuten IST das Zimmer aufgeräumt!“ „Aber Jakob IST immer quer über die Gleise gegangen.“ Fünfmal „ist" = Präsensform, doch jedes Mal ein anderer Zeitbezug.
„Am Anfang SCHUF Gott Himmel und Erde.“ „Am Anfang HAT Gott Himmel und Erde GESCHAFFEN.“ „Am Anfang HATTE Gott Himmel und Erde GESCHAFFEN.“ Dreimal ‚Vergangenheit‘, dreimal grammatisch different. Und zunehmend seltsam. Aber warum genau?
Wie in allen natürlichen Sprachen korreliert auch im Deutschen das grammatische Tempus nicht immer eindeutig mit dem dadurch angezeigten Zeitverhältnis. Zudem gelten für fiktionale Texte offenbar Sonderregeln, auch wenn über deren Inhalt und Reichweite trotz jahrzehntelanger Diskussionen keine Einigkeit erzielt werden konnte. Unterdes hat sich die literarische Praxis – wohl auch unter dem Eindruck der allgemeinen Medienentwicklung in Richtung Audiovisualität, Bildschirm/Display, Echtzeit – selbst wieder gewandelt.
Angesichts dieser diffusen Ausgangslage gilt es im Seminar zunächst, das Tempussystem des Deutschen sowie die Grundbegriffe der Narratologie – und hier besonders deren zeitbezogene Kategorien (Dauer, Ordnung und Frequenz) – elementar zu rekonstruieren. Auf dieser Basis sind dann einschlägige narratologische Positionen zur Tempusfrage – etwa von Käte Hamburger und Harald Weinrich – zu rekapitulieren und an klassischen Beispielen von Grimmelshausen über Adalbert Stifter bis Ingeborg Bachmann zu bestätigen oder zu widerlegen. Erst auf diesem Fundament wären schließlich neuere literarische wie auch theoretische Entwicklungen spezifisch einzugrenzen und zu diskutieren. Ziel des Seminars ist, hier gemeinsam möglichst weit zu kommen.