Nicolas Born

 

Sommersemester 2013

Wollte man für literaturgeschichtsdidaktische Zwecke einen Autor erfinden, an dem möglichst alle Strömungen, Stadien und Widersprüche der 1960er und 70er Jahre exemplarisch zu studieren wären, es käme wohl ziemlich genau Nicolaus Born (1937-1979) heraus: Kölner Realismus und Nouveau Roman, die 68er-Revolte und ihre Folgen, Glanz, Elend und Neuaneignung gesellschaftlicher Utopien, US-amerikanische Popkultur und Underground-Lyrik, Neue Subjektivität, die Spannung zwischen kleinbürgerlich-provinzieller Herkunft (Ruhrgebiet), Großstadt-Bohème (Berlin) und alternativem Landleben (Lüchow-Dannenberg), zwischen Künstlerfreiheit und familiärer Verantwortung, Engagement und Rückzug, der Kampf gegen Atomenergie und Überwachungsstaat, Radikalkritik am Wirklichkeitsraubbau der mediatisierten Welt und nicht zuletzt das relative Vergessensein all dieser Themen und Impulse heute – all das deckt Born phänotypisch ab.
Indes markieren solche Stichworte nur seine Außenseite. Taucht man in seine Bücher und unlängst posthum edierten Briefe tiefer ein, erscheint – so direkt und fasslich seine Texte sich beim Lesen geben – ein viel verwickelteres Szenario mit unvermuteten Facetten wie dem illustrierten Science-Fiction-Kinderbuch „Oton und Iton. Abenteuer in der vierten Dimension“ (1973) oder der frühen und anhaltenden Nähe zu dem hermetischen Lyriker Ernst Meister (1911-1979), den er nur um wenige Monate überlebte.
Borns Schreib- und Lebensindividualität im zeitgeschichtlichen Kontext nachzuspüren, ist Ziel des Seminars. Im Mittelpunkt werden dabei seine Lyrik sowie seine Romane „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“ (1976) und „Die Fälschung“ (1979) stehen, bei letzterem mit Seitenblicken auf Volker Schlöndorffs gleichnamigen Film (1981) und Michael Farins mehrteilige Hörspiel-Adaption (2009).