Roman Ingarden

Sommersemester 2014

Wieviel wiegt Schillers Wallenstein? Wie klingt die Stimme von Schneewittchen? Wo in der Schweiz liegt Seldwyla? Und was macht Thomas Buddenbrook in den Zeiträumen, die Thomas Mann in seinen „Buddenbrooks“ nicht schildert?
Inhaltlich sind solche Fragen müßig, weil die Werke, in denen diese Phänomene einzig existieren, sie nicht beantworten. Strukturell sind sie dagegen äußerst aufschlussreich, weil sie – gerade als prinzipiell unbeantwortbare – die strukturelle Unerfülltheit bzw. Nicht-Expandierbarkeit sprachbasierter Weltentwürfe offenbaren und so zu einer ganzen Reihe weiterer grundsätzlicher Fragen Anlass geben, etwa:
- Wieviel Erfülltheit ist in fiktionalen Werken überhaupt erreichbar? Wäre Schneewittchens Stimme textlich so exakt zu charakterisieren, dass unzweideutig klar würde, wie sie ‚wirklich klingt‘? So dass alle sie beim Lesen auch identisch ‚hören‘?
- Wieviel Aufwand wäre für eine solche Konkretion vertretbar? Würde man dafür die hundertfache Textlänge in Kauf nehmen? Wäre das dann noch „Schneewittchen“?
- Inwieweit ist solche Erfülltheit in Fiktionserzählungen überhaupt nötig? Vermisst jemand beim Lesen von „Schneewittchen“ deren Stimmklang? Und wenn nicht, warum nicht? Weil man ihn ohnehin innerlich ‚hört‘, also individuell konkretisiert? Oder weil man sich gerade nicht für einen bestimmten Klang entscheiden müssen will?
- Welche Rolle spielen generisch notwendige Konkretionen? Wenn die Figur in einem Märchenhörspiel von einer bestimmten Schauspielerin gesprochen wird, ist das dann „Schneewittchens Stimme“? Inwiefern? Oder geht auch eine tiefe Märchenonkel-Stimme, die ihre Redeteile mit vorliest? Wie verschiedene und wie viele Stimmen darf Schneewittchen haben?
- Sieht es bei faktualen Texten mit der Erfülltheit und Erfüllbarkeit grundsätzlich anders aus? Was unterschiede eine Angabe wie „Wallenstein wog 83 Kilo“ in einem Geschichtsbuch von derselben Information in Schillers Drama? Wie wiegt man Dramenhelden? Wie bestimmt man das Gewicht von Toten?
- Wann werden Unerfülltheiten spezifisch relevant? Was würde sich an der (in Schillers Drama irrelevanten) Nichtbestimmtheit von Wallensteins Gewicht ändern, wenn dieser im Laufe der Handlung über eine Brücke müsste, von der man weiß, dass sie wohl nur 75 Kilo trägt? Wie, wenn das Stück genau in dem Moment endet, wo er sie betritt? Und was, wenn Wallenstein – etwa in einem Trickfilm – zugleich tonnenschwer und ultraleicht wäre?
- Inwieweit ist die Realität selbst überhaupt je expandierbar? Wie genau hätte man Wallenstein zu dessen Lebzeiten wiegen können? Wie genau dagegen, wenn er heute leben würde? Und ab welcher Genauigkeit (z.B. Nanogramm?) oder Frequenz (z.B. millisekündlich) würden die so erhobenen Daten, so korrekt auch immer, praktisch sinnlos?
Kurz: Wieviel Unbestimmtheit birgt, braucht und verträgt die Kunst? Die Phantasie? Die Wirklichkeit?
Der entscheidende Pionier in der Entdeckung und Erforschung solcher Fragen war der polnische Philosoph und Husserl-Schüler Roman Ingarden (1893-1970), der dafür das Konzept der „Unbestimmtheitsstellen“ eingeführt und in grundlegenden, teils ursprünglich auf Deutsch verfassten Studien expliziert hat, darunter einschlägig: „Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Logik, Ontologie und Literaturwissenschaft“ (1930), „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks“ (1968), „Untersuchungen zur Ontologie der Kunst: Musikwerk. Bild. Architektur. Film“ (1962) sowie die Vortragssammlung „Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967“ (1969).
In der Literaturwissenschaft ist Ingardens Konzept vor allem in den 1970er Jahren von Wolfgang Iser rezipiert worden und wird seither meist nur als Anstoß für dessen heute gängigere Kategorie der „Leerstelle“ erinnert, wobei die Begriffe auch oft parallelgeführt werden. Indes wurde verschiedentlich bemerkt, dass Isers rezeptionsästhetische ‚Modernisierung‘ von Ingardens „Unbestimmtheitsstelle“ zur „Leerstelle“ auch eine Vereinseitigung bedeuten könnte.
Ansatz der Übung soll es daher sein, einmal zu Ingarden selbst zurückzugehen und mittels gemeinsamer Lektüre ausgewählter Kernstellen – jeweils gefolgt von möglichst eng darauf bezogenen Diskussionen an elementaren Beispielen – das Problemfeld zu beleuchten. Auch mit der Frage, ob seine Überlegungen etwas zum Verständnis neuerer, von ihm selbst gar nicht mehr erlebter Medienentwicklungen beizutragen haben.