Zeitfiktionen

Wintersemester 2017/18

Im realen Leben können wir verschiedene Verhältnisse zur Zeit entwickeln, können sie ausfüllen, einteilen, vertreiben, verschwenden, vergessen, ihr hinterherrennen, nachtrauern usw. Was wir dagegen nicht können, ist: die Zeit selbst beeinflussen oder nach unseren Wünschen modellieren. Immer läuft sie in dieselbe Richtung. Immer geht sie unrettbar vorbei. Und immer bleiben wir in ihr gefangen. Weder können wir sie anhalten, verlangsamen, beschleunigen, teilen oder ihren Lauf umkehren, noch in ihr vor- bzw. zurückspringen oder umherwandern.
In der Literatur dagegen ist all das ohne weiteres möglich. Und es gibt kaum eine Variante, die man sich dort hätte entgehen lassen – von Zeitreise-Klassikern wie H.G. Wells‘ „The Time Machine“ (1895) oder Stanislaw Lems „Sterntagebüchern“ (1957ff.) über die rückwärts laufende Zeit in Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ (1949) und die Zeitkalamitäten in Michael Endes Märchen „Momo“ (1973) bis hin zu den poly-epochalen Verschränkungen in Mark Z. Danielewskis „Only Revolutions“ (2006).
Gegenstand des Seminars ist es, die Möglichkeiten und Eigenheiten literarischer Zeitgestaltung anhand demonstrativer, mithin markiert fiktiver Normabweichungen zu untersuchen. Zur Vorbereitung ist es – neben der Lektüre der genannten Werke – sinnvoll, sich die aktuellen Standards narratologischer Zeitanalyse in Erinnerung zu rufen, wie sie etwa in Martínez/Scheffels „Einführung in die Erzähltheorie“ (aktuell: 10. Aufl., München: Beck 2016; dort insbes. Kap. II, 1) dargelegt sind. Weitere themenbezogene Textvorschläge – zumal aus der neueren deutschsprachigen Belletristik (wie etwa Martin Suters „Die Zeit, die Zeit“, 2012, oder Christoph Ransmayrs „Cox oder Der Lauf der Zeit“, 2016) – sind willkommen.