Zeittheorie und Ästhetik

Wintersemester 2018/19

Im 11. Buch seiner „Confessiones“ befand Aurelius Augustinus (354-430): „Was also ist die Zeit? Solange mich niemand danach fragt, weiß ich es; sobald ich es aber jemandem erklären will, weiß ich es nicht.“ Seither sind alle, die von Zeit reden, dazu verdammt, am Anfang immer diesen Ausspruch zu zitieren. (Q.e.d.) Gleichwohl geschieht das weniger aus Faulheit oder Autoritätshörigkeit, sondern einfach deshalb, weil es noch immer stimmt. Denn bis heute weiß kein Mensch, was Zeit in Wahrheit ist.
Nichtsdestoweniger hat die Zeittheorie seit Augustinus große Fortschritte gemacht. Und zwar in allen Disziplinen. Allerdings wurden die großen Durchbrüche in einzelnen Bereichen – wie etwa Einsteins Relativitätstheorie in der Physik – in den übrigen Fächern und im Allgemeinbewusstsein meist entweder gar nicht oder stark verkürzt oder verbogen wahrgenommen.
Die Folgen werden immer dann akut, wenn verschiedene Zeitkonzepte unvermittelt aufeinandertreffen. In der Literaturwissenschaft ist das – weil in der Literatur die ganze Welt zum Inhalt und jede sprachliche Option zur Form werden kann – relativ oft der Fall, nämlich überall dort, wo eine adäquate Werkanalyse eigentlich erfordern würde, zeitbezogene Phänomene bzw. Begriffe verschiedener Sphären präzise zu unterscheiden und miteinander ins Verhältnis zu setzen, etwa: „Analepse“, „episches Präteritum“ und „Zeitreise“; „Zeitdehnung“, „Ewigkeit“ und „Langeweile“; „repetitives Erzählen“, „Zeitschleife“ und „Sonnenumlauf“; „Zeitsprung“, „Zeitraffung“ und „Synchronopse“; „Zeitdilatation“, „Verspätung“ und „Anachronismus“; oder schließlich: „Gleichzeitigkeit“, „Mehrsträngigkeit“ und „Simultaneität“.
Für eine systematische Korrelierung solcher Begriffe fehlt im ästhetischen Diskurs aber derzeit jede Basis. Ziel der Übung muss es daher zunächst sein, die Problemlage möglichst distinkt zu konturieren. Auf dieser Basis können dann lokale Lösungsansätze, die jüngst im Rahmen eines Forschungsprojekts erarbeitet wurden, vorgestellt und gemeinsam auf ihre Kohärenz, Verständlichkeit und Tauglichkeit überprüft werden.